. Grundproblem der volkswirtschaftlichen Theorie - 3 & 4

3 Die klassische Schule

Dass die große Gedankenarbeit der Physiokraten zu jener Zeit nicht genügend gewürdigt wurde, hat seinen Hauptgrund darin, dass ihre Leistung, kaum vollbracht, durch das Werk von Adam Smith über den Volksreichtum (1776) in den Schatten gestellt wurde. Erst in diesem Werke, welches auch die Anregungen der Physiokratie in sich aufnahm, jedoch vieles von ihrer Einseitigkeit abstreifte, fand das durch die Physiokraten wachgerufene Interesse wirkliche Befriedigung. Die abstrakte und völlig unhistorische Betrachtungsweise der Physiokraten wir bei Smith durch einen geschichtlichen und ethischen Hintergrund ergänzt und um vieles lebenswahrer gestaltet.

Die Hauptstärke von A. Smith liegt in seiner scharfen und nüchternen Beobachtungsgabe, welche ihn das Gebiet der Volkswirtschaft so umfassend überblicken lässt, wie es vor ihm niemanden gelungen ist. Die Einseitigkeit der Physiokraten, deren System er sonst viel näher steht, als oft angenommen wird, streift Smith ab, insbesondere in der Lehre von der Fruchtbarkeit, indem er die Arbeit als Quelle des Reichtums in den Vordergrund rückt. Die Arbeitsteilung, welche er so meisterhaft schildert, der Tausch und die freie Konkurrenz,die Wert- und Preisbildung, sowie der Vorgang der Einkommensverteilung werden zu seinem umfassenden Bildes der Volkswirtschaft vereinigt. Und der Moralphilosoph, als welcher Smith seine Laufbahn begann, zeichnet mit Meisterschaft den Hintergrund dieses selbsttätigen Mechanismus des Wirtschaftslebens, indem er im wohlaufgefassten Selbstinteresse die bewegende Kraft desselben aufdeckt.

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Nachdem Smith auf Grund seiner scharfen Beobachtungsgabe eine umfassende Beschreibung des Wirtschaftslebens und seiner Grundzusammenhänge gegeben hat, ließ auch die theoretische Vertiefung nicht auf sich warten. Sie ist in erster Reihe David Ricardo (1772-1823) und Robert Malthus (1766-1834) zu verdanken. Auf den Satz gestützt, dass der Preis der Waren durch die Produktionskosten bestimmt wird, hat Ricardo, mit bewunderungswürdiger deduktiven Gabe gesegnet, einheitliches System der Preislehre und der Einkommensverteilung aufgebaut, und Malthus hat durch seine Bevölkerungstheorie, sowie durch die Lehre vom abnehmenden Bodenertrag, welche beide im wunderbaren Einklang mit dem naturwissenschaftlichen Geiste der Volkswirtschaftslehre jener Zeit standen, hierzu den Unterbau geliefert. Wer diesen einheitlichen Gedankenbau einmal überblickt, wird das große Ansehen begreifen, welches diese Schule genoss und verstehen, weshalb sie als klassische Schule bezeichnet wird.

John Ramsay Mac Culloch (1789-1864), Nassau William Senior (1790-1864) und Jean Stuart Mill (1806-1875), John Elliot Cairnes (1823-1875) und Jean Baptiste Say (1767-1832) haben die Lehre weiter zu vertiefen gesucht. Letzterem verdankt die Nationalökonomie vor allem den Ausbau ihres Systems. Das Wissen der Theorie liegt nicht allein im Wissen, sondern im systematisch geordneten Wissen. Indem Say das Gebiet der neuen Wissenschaft in die Lehre von der Produktion, dem Güterverkehr, der Güterverteilung und dem Verbrauche teilte, trug er erheblich zur systematischen Erfassung des Stoffes bei. Friedrich Benedict Hermann (1795-1868) sowie Karl Heinrich Rau (1792-1870) halfen wacker hierbei mit.

Die Einwirkung der klassischen Lehre auf die Geister jener Zeit war überwältigend. In Deutschland stehen Kraus, Sartorius, Jakob, Soden, Luden, E. Loß und Hufeland stark unter dem Einflusse von Smith und auch bei Rau und Hermann macht er sich stark geltend. Später gewinnt Ricardo an Einfluss in Deutschland durch Robbertus, A. Wagner und Dietzel. In Frankreich ist unter dem Einflusse von Say die Anziehungskraft der Smithschen Lehre stark (Courcelle-Seneuil, Levasseur), doch wird diese Lehre halb durch Frédéric Bastiat zu einer Lehre von der Harmonie der Wirtschaftskräfte ausgebaut und ein Grundzug des Optimismus beherrscht auch die gefeierten Nationalökonomen Leroy Beaulieu, Léon Say und Fr. Passy. Auch in Italien und den Vereinigten Staaten ist die Wirkung der klassischen Schule übermächtig, doch auch im letzteren Lande wird sie durch Carey in eine Bastiat ähnliche Richtung getrieben.

Die Hauptwerke von Smith, Ricardo, Malthus und John Stuart Mill liegen in deutscher Übersetzung vor und sind als Band 5, 6, 7, 11, 12, 17 und 18 der Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister erschienen. Über die klassische Schule unterrichten: Schumpeter: Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte im Grundriss der Sozialökonomie, 2. Aufl. Tübingen 1924, Gide und Rist: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, 3. Aufl. Jena 1923, Surányi-Unger: Philosophie in der Volkswirtschaftslehre, 1. Band Jena 1923.

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4 Die Rückwirkung gegen die Naturlehre des Wirtschaftslebens

Quesnays kühner Wurf, den Naturgesetzen des Wirtschaftslebens nachzuspüren und die Vertiefung dieses Bestrebens durch die klassische Schule haben die Volkswirtschaftslehre erst wirklich auf die Höhe einer Wissenschaft erhoben. Kaum hat sich jedoch jene faszinierende Wirkung etwas verflüchtigt, welche die Erweiterung des Horizontes durch Erschließung eines neuen Untersuchungsgebietes in den Vorgängen des gesellschaftlichen Gefüges der Wissenschaft auf die Geister ausübte, machten sich Gegenströmungen geltend, welche sich einerseits gegen die zu weitgehende Loslösung der Untersuchung des Wirtschaftslebens von jener der Ganzheit des Gesellschaftslebens, andererseits gegen die Auffassung wandten, dass das Wirtschaftsleben ebenso unabänderlichen und sich stets gleichbleibenden Gesetzen unterworfen sei, wie die Naturwelt. Der homo oeconomicus der Klassiker, welcher in Verkörperung des wirtschaftlichen Prinzips als Untersuchungsobjekt der Theorie zugrunde gelegt wurde, wurde als lebensfremde, der vielseitigen Natur des Menschen widersprechende Abstraktion ebenso verworfen, wie die Suche nach Naturgesetzen des Wirtschaftslebens, welcher die Beeinflussung des Wirtschaftslebens durch historische und ethische Beweggründe entgegengehalten wurde.

Diese Rückwirkung ist vor allem Produkt des deutschen Geistes, welcher sich mit dem atomistisch ausgerichteten Individualismus der Engländer ebensowenig befreunden konnte, als mit ihrer nüchternen naturwissenschaftlichen Betrachtung der Gesellschaftsvorgänge. Die Gesellschaft als Ganzes, als umfassende große Vereinigung der geistigen Lebensinhalte des Menschen schwebt jener Gegenströmung vor Augen, welche mit Adam Müller Ritter von Rittendorf (1779-1829) einsetzt und die organische Betrachtung des Gesellschaftslebens in seiner Einheit fordert. Für die sich um diese Gedanken scharende romantische Schule, Friedrich von Gentz (1764-1832), Carl Ludwig von Haller (1768-1854) und Franz von Baader (1765-1841) ist das Wirtschaftsleben nichts Selbständiges, sondern nur ein Teil der Ganzheit der Gesellschaftsvorgänge, welcher sein Wesen, seine Lebenswahrheit einbüßt, wenn er aus dieser Ganzheit herausgerissen betrachtet wird.

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Bald wird von Friedrich List (1789-1846) in der Abneigung gegen Individualismus, Materialismus und Kosmopolitismus das nationale Wesen, die Hinzugehörigkeit der Wirtschaftsvorgänge in die Lebenssphäre der Nation und des Volkstums herausgearbeitet und hierdurch die Verbundenheit des Wirtschaftslebens mit der Entwicklung der Volksschicksale betont. So kommt gegenüber der unhistorischen, nur auf das Unveränderliche und sich stets Gleichbleibende betonenden Betrachtungsweise der Klassiker, der historische Gesichtspunkt zur Geltung welcher sich in der historischen Schule von Wilhelm Roscher (1817-1898), Bruno Hildebrand (1812-1871) und Karl Knies (1821-1898) die Erforschung des Werdegangs und der Entwicklungsgesetze des Wirtschaftslebens zur Aufgabe stellt.

Neue Belebung und eine erhebliche Erweiterung der Forschungsziele erfährt dieses Bestreben in der von Gustav Schmoller (1838-1917) geführten zweiten oder jüngeren historischen Schule der Volkswirtschaftslehre ausweitet, indem sie sich kein geringeres Ziel setzt, als die Vorgänge des wirtschaftlichen Werdens aus der Gesamtheit der Natur- und Gesellschaftsbedingungen der Völker umfassend zu erklären. Karl Bücher (geb. 1847), Lujo Bretano (geb. 1844), Georg Friedrich Knapp (1842-1926) und Werner Sombart (geb. 1863) widmen sich dieser schweren Aufgabe.

Auch außerhalb Deutschlands machte sich die Rückwirkung gegen die zu weit gehende Abstraktion und die unhistorische sowie individualistische Auffassung der Klassiker geltend. So vor allem in der ethischen Richtung von Jean Charles Léonard Simonde de Gismondi (1773-1842), sodann durch Carlyle und Ruskin beeinflusst in England (Toynbee, Tooke, R. Jones, Cliff Leslie, Rogers, Ashlen), wo der Anschluss an die ethische und historische Betrachtung ebenfalls gesucht wurde.

Auch der wissenschaftliche Sozialismus kann als eine Auflehnung des menschlichen Geistes gegen die Betonung der Unabhängigkeit der volkswirtschaftlichen Gesetze betrachtet werden. Karl Johann Robbertus-Jagetzow (1805-1875), Heinrich Karl Marx (1818-1883) und Ferdinand Lassalle (1825-1864) stehen zwar auf dem Boden der klassischen Lehre, doch werden von ihnen die Gesetze Ricardos als Gesetze der kapitalistische Wirtschaftsordnung betrachtet und die Lehre von Marx spitzt sich zu einer Entwicklungstheorie des Wirtschaftslebens zu, deren Grundlage jenes Entwicklungsgesetz bildet, wonach sich der Kapitalismus selbst aufhebt und dem Sozialismus, dem Siege der Arbeiterklasse Platz macht, indem die Betriebskonzentration (Konzentrationstheorie die Zunahme des konstanten (stehenden) Kapitals, die industrielle Reservearmee und die Proletarisierung der Massen (Verelendungstheorie) nach sich zieht, was durch fortwährend erneuerte krisenhafte Erschütterung schließlich zum Zusammenbruch des Kapitalismus (Zusammenbruchtheorie) und zum Sieg des Sozialismus führt.

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Hier kommt noch ein Link nach der Schule und Buchungssätze üben.