. Grundproblem der volkswirtschaftlichen Theorie - 52 und 53

52 Die Lohnsteigerungen

Indessen, die Verhältnisse änderten sich. Die Erstarkung der Gewerkschaftsbewegung führte zu bleibenden Lohnerhöhungen. Man musste einsehen, dass die These, der Arbeitslohn könne nicht dauernd über das Existenzminimum steigen, mit den Tatsachen nicht übereinstimmt. Das eherne Lohngesetz wurde gemildert und jener stets nie ganz unberücksichtigt gebliebene Satz in den Vordergrund gerückt, welcher zugibt, dass das Existenzminimum der Arbeiter absolut betrachtet, steigen kann. So entstand die „standard of life“-Theorie des Arbeitslohnes, welche die Abhängigkeit des Lohnes von der eingewöhnten Lebenshaltung der Arbeiter betont. Was das eherne Lohngesetz für die Sozialdemokratie, das wurde jetzt diese Theorie des Arbeitslohnes für die Sozialpolitiker. Es wurde eine kulturelle Hebung der Arbeiterklasse durch englische und deutsche Sozialpolitiker sowie durch die Vertreter des christlichen Sozialismus gefordert, um hierdurch indirekt das Lohnniveau zu beeinflussen.

Als ein hervorragender Vertreter dieser Richtung muss Brentano betrachtet werden. Er erblickt eben darin, dass die Lebenshaltung der Arbeiter einen Einfluss auf die Lohnhöhe besitzt, die Möglichkeit für Lohnsteigerung. So wird die anfangs gewerksvereinsfeindlich lautende Theorie des Arbeislohnes durch die Sozialpolitiker in eine gewerksvereinsfreundliche Theorie umgewandelt, da ja die Gewerkvereine Mittel zur Hebung der Lebenshaltung des Arbeiterstandes sind.

Die Sozialdemokratie selbst musste das eherne Lohngesetz aufgeben. Dies bedeutete aber für sie keineswegs das Verlassen jener Grundlage bei der Lösung der Frage nach dem Wesen und nach der Gestaltung des Arbeiterlohnes, welche Ricardo durch seine Wert- und Preislehre geschaffen hat. Die Arbeitswerttheorie in ihrer Kombination mir dem Bevölkerungsgesetze blieb auch weiterhin jene Grundlage, auf welcher die sozialistische Richtung ihre Lohntheorie aufbaut.

Auf dieser Grundlage kommt Robbertus zu seinem Gesetz der fallenden Lohnquote. Da der Arbeiter unbegütert ist und bloß durch Verbindung seiner Arbeitskraft sich in die Volkswirtschaft eingliedern kann, da andererseits die Zahl der Arbeiter sehr groß und der Druck ihrer unbefriedigten Bedürfnisse ein noch größerer ist, so müssen sie ihre Arbeitskraft unter Bedingungen veräußern, welche ihnen nicht jenen Anteil zukommen lassen, den sie durch ihre Arbeit schaffen, sondern bloß einen viel geringeren Teil. Die zunehmende Produktivität der Volkswirtschaft kommt also nicht ihnen, sondern den Grundbesitzern und Kapitalisten zugute. Da ihr Anteil durch ihre niedere Lebenshaltung bestimmt wird, erhalten sie eine stets abnehmende Quote des mit zunehmender Produktivität der Volkswirtschaft wachsenden Nationalproduktes.

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Derselbe Gedankengang liegt auch der marxistischen Doktrin zugrunde. Marx geht davon aus, der Kapitalist kaufe die Arbeitskraft zu ihrem Werte, also er bezahle für sie ihre Produktionskosten. Seine ganze Produktionsweise sei darauf aufgebaut, Waren, die mehr Arbeit enthalten als er bezahlt, zu erzeugen, also ein Produktionsergebnis zu zeitigen, das einen Wertteil enthält, der ihn nichts kostet und dennoch auf dem Markte realisierbar ist. Auch Marx meint, dass dies für ihn durch die rasche Zunahme der Arbeiter ermöglicht wird, aber er fügt noch einen anderen Grund hinzu, welcher das Arbeitsangebot stets steigert und auf den Lohn fortwährend in erhöhtem Maße einen Druck ausüben muss. Es ist dies die fortschreitende Akkumulation des Kapitals, welche fortwährend das konstante Kapital, also die sachlichen Produktionsmittel, ab die Stelle des variablen Kapitals, d. h. an die Stelle der menschlichen Arbeit, zu setzen bestrebt ist und hierdurch die Arbeitsnachfrage fortschreitend verringert. Hierdurch entsteht die industrielle Reservearmee, ein Heer von unbeschäftigten Arbeitern, und es wird diese zu einem wesentlichen Bestandteil der kapitalistischen Produktion, als das beste Mittel, die Löhne stets niedrig zu halten.

53 Die Lohnfondstheorie

Die Schüler Ricardos gaben sich mit der Lohntheorie ihres Meisters nicht ganz zufrieden. Sie legten auf das von ihm betonte Moment der Produktionskosten der Arbeit weniger Gewicht, suchten vielmehr das entscheidende Moment der Lohnbildung im Verhältnis der Arbeiterzahl zur Kapitalausrüstung der Volkswirtschaft. So kamen James Mill, Mac Culloch, Senior und auch Stuart Mill zu dem Satze, der Arbeitslohn hänge direkt von jener Kapitalmenge ab, welche in einer Volkswirtschaft für die Entlohnung der Arbeiter zur Verfügung steht. Der Arbeitslohn habe daher zwei Bestimmungsgründe. Zuerst jene der Nachfrage, welcher sich nach dem der Volkswirtschaft für die Entlohnung der Arbeiter zur Verfügung stehenden Kapitalfonds, welcher Lohnfonds genannt wurde, richtet, und dann jener des Arbeitsangebotes, welches von der Bevölkerungszunahme abhängt. Diese Theorie des Arbeitslohnes wurde die Lohnfondstheorie genannt und wurde alsbald zur herrschenden Theorie des Arbeitslohnes.

In ihrem Ausgangspunkte entfernt sich die Lohnfondstheorie kaum merklich von der Lohntheorie Ricardos. Auch sie stützt sich auf die Begrenztheit der Lebensmöglichkeiten und auf die Zunahme der Bevölkerung. Während aber Ricardo diese Faktoren vom Kostenstandpunkte betrachtet, wird in der Lohnfondstheorie der Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstand und Produktionsmöglichkeiten erfasst. Auch die Lohnfondstheorie führt zu einer pessimistischen Beurteilung der Lohngestaltung, wie dies ja den damaligen Verhältnissen auch ziemlich entsprach. Für den niedrigen Stand der Löhne hat sie aber nicht nur den Grund der raschen Bevölkerungszunahme anzuführen, sondern sie beurteilt auch, ganz im Anschlusse an Malthus, die Zunahme des Lohnfonds in pessimistischer Weise.

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Ihr Begründer, James Mill, sucht nachzuweisen, dass die Zunahme des Kapitals viel langsamer vor sich geht, als das Bevölkerungswachstum. Würde das Kapitel die Tendenz haben, sich ebenso rasch zu vermehren wie die Bevölkerung, so würden für jeden neu hinzugekommenen Arbeiter auch die Mittel, um sich Arbeit und Unterhalt zu verschaffen, gegeben sein. Da dies aber nicht der Fall ist, so kann sich die Lage der arbeitenden Klassen nicht verbessern. Auch die künstlichen Mittel, die Kapitalzunahme zu beschleunigen, können seiner Ansicht nach keine wünschenswerten Ergebnisse zeitigen. Hierin liegt nach der Ansicht von James Mill die Ursache des allgemeinen Jammers

Die Zahl der Anhänger der Lohnfondstheorie ist sehr groß. Abgesehen von ihren älteren Vertretern zählen auch Theoretiker neuesten Schlages, wie Böhm-Bawerk und Wicksell, bis zu einem gewissen Grade, zu ihren Anhängern. Böhm-Bawerks Grundgedanke, der sich auf die Begrenztheit des Vorrates an Gegenwartsgütern aufbaut und so zum Agio der Zukunftsgüter kommt, musste ihn in nahe Verwandtschaft zu der Lohnfondstheorie bringen. Der Vorrat an Gegenwartsgütern nimmt für ihn den Charakter eines Subsistenzmittelfonds an, aus welchem sowohl die Löhne der Arbeiter als auch noch andere Posten zu bestreiten sind. Der Subsistenzmittelmarkt ist für ihn der Markt, wo Gegenwartsgüter für Zukunftsgüter ausgetauscht werden. Sehen wir der Einfachheit wegen davon ab, dass der Subsistenzmittelfonds auch in anderen Richtungen in Anspruch genommen wird, so müssen wir voraussetzen, dass durch die Unternehmer solche Produktionsperioden gewählt werden, bei welchen während der Dauer derselben gerade der ganze disponible Subsistenzmittelfonds zur Versorgung der gesamten vorhandenen Arbeiterschaft erforderlich, aber auch genügend ist. Die beiden Elemente der Lohnfondstheorie, nämlich der Lohnfonds, allerdings in der veränderten Form des Subsistenzmittelfonds, und die Bevölkerungszahl, als bestimmender Faktor der um diesen Fonds werbenden Arbeiterzahl, finden sich auch bei ihm vor. Eine weitere Verwandtschaft mit der Lohnfondstheorie lehnt Böhm-Bawerk freilich ab, allerdings nicht ganz mit Unrecht, denn er stellt sich das Aufeinanderwirken dieser Faktoren nicht so mechanisch und einfach vor, wie dies für die ältere Lohnfondstheorie charakteristisch ist. Vor allem schaltet er den Einfluss der Verschiedenheit der Länge des Produktionsprozesses in seine Erklärung ein, und die Berücksichtigung dieses Moments ist ein charakteristisches Merkmal seiner Auffassung. Auch versäumt er es nicht wahrzunehmen, dass der Subsistenzmittelfonds nicht allein für die Beschäftigung der Arbeiter beansprucht wird, sondern auch für jene, die Konsumkredit begehren, sodann für die Kapitalisten und Grundeigentümer, die aus demselben ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen. Trotzdem ändert dies kaum etwas daran, dass Böhm-Bawerk in seiner Erklärung der Lohngestaltung dem Wesen nach auf der Grundlage des Lohnfonds steht, denn, wenn er den Lohnfonds auch als Subsistenzmittelfonds anspricht, so bleibt er doch wie bei der Lohnfondstheorie, mit der Zahl der Lohnarbeiter kombiniert, in seiner Theorie der wesentliche Bestimmungsgrund des Arbeitslohnes.

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Nicht ganz so bei Taussig, der zwar Böhm-Bawerk in der Lohntheorie nahesteht, den Zusammenhang zwischen Lohn und Kapital aber komplizierter auffasst. Er meint, Lohn und Zins, nicht aber Lohn und Kapital stehen in engem Zusammenhang. Nur wenn der Zins einfach der Unterschied zwischen den „advances“ (also den als Lohn vorgeschossenen Kapital) und dem zukünftigen Produkte der Arbeit (samt Kapital) wäre, könnte der Lohn in direktem Zusammenhange mit dem für Lohnzahlungen verwendeten Kapitel stehen. Die Zinshöhe wird aber, meint er, nicht durch den erwähnten Unterschied zwischen Vorschüssen und Ertrag, sonder durch die Ergiebigkeit des Kapitals an der Produktionsmenge bestimmt und so auch hier entschieden, wie der Unternehmer seine Vorschüsse zwischen Kapital (als Zins) und Arbeit (als Lohn) zu teilen hat. Der ganze Prozess läuft auf eine Diskontierung zukünftiger Güter hinaus, da der Unternehmer Gegenwartsgüter für Zukunftsgüter austauscht. So kommt Taussig zu dem Schlusse, dass der Lohn durch Diskontierung des Grenzertrages der Arbeit bestimmt wird, wobei im Auge zu behalten ist, dass Taussig unter Ertrag der Arbeit den ganzen Ertrag der Produktion versteht, da er nicht zugibt, dass das Produkt im Wege der Zurechnung zwischen Kapital und Arbeit geteilt werden kann.

Auch Supinos Lohntheorie ist eine verfeinerte Lohnfondstheorie, denn er meint, die Löhne werden aus einem Teil des Kapitals, nämlich aus dem capitale-salari gezahlt. Dieser Lohnfonds ist selbst Ergebnis der Arbeit und ändert sich je nach Ergiebigkeit der Arbeit, sowie dem Grade der Kapitalansammlung und der Höhe des Profitsatzes.

In welchem Maße der Grundgedanke, der Arbeitslohn stehe in direktem Verhältnisse zur Kapitalmenge und zu der Zahl der Arbeiter, sich dem forschenden Geiste aufdrängt, beweist auch die Lohntheorie Spiethoffs. Er sieht im Verhältnisse des vorhandenen Kapitals zu der Lohnarbeiterzahl, wenn auch nicht den eigentlichen Bestimmungsgrund des Arbeitslohnes, so doch die Obergrenze für Lohnsteigerungen.

Es ist das große Verdienst Hermanns, die Lohnfondstheorie zu einer Zeit einer scharfen und tiefgehenden Kritik unterzogen zu haben, da sie noch unbeschränktes Ansehen genoss. Er wendet sich hier energisch gegen die Ansicht, der Lohn müsse sich direkt nach dem Verhältnisse von Kapital und Arbeiterzahl richten, und weist die zu jener Zeit hieraus oft hergeleitete Behauptung noch energischer zurück, die Unternehmer wären es, die die Arbeiter indem sie aus ihrem Kapital die Löhne bestreiten, erhalten. Er hält dieser Behauptung den Einwand entgegen, die Unternehmer kaufen die Arbeit in letzter Reihe nicht aus ihrem Kapital, sondern aus dem Erlös, welcher ihnen durch den Verkauf ihrer Produkte seitens der Konsumente zufließt, denn sie kaufen ja die Arbeit zum Weiterverkauf in Form fertiger Produkte. Hiermit stellt er sich schon vier Jahrzehnte früher auf jenen Standpunkt, den Walker erst in den siebziger Jahren in dieser Frage einnimmt, und welcher später Seligmann mit folgenden Worten ausdrückt: „Die Löhne werden nicht aus dem Kapital bezahlt, sie werden bloß vom Kapital ausgelegt. Sie werden aus dem Produkt bezahlt. Die Arbeit verdient also ihren Anteil am Produktionsertrag in derselben Weise wie das Kapital.“ (Seligmann, Principles of Economics, 3. Auflage Neuyork 1908. Seite 416) Auch sieht er in der Behauptung, der Lohn werde aus dem Kapital bestritten, eine unerlaubte Ausschaltung der Tatsache, dass jene an sich nicht zu unterschätzende Zahl von Arbeitern, welche persönliche Dienste leisten, aus dem Einkommen entlohnt werden.

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Erst dreißig Jahre später erhob sich die Kritik in England gegen die der Kapitalistenklasse so willkommene Lohnfondstheorie und erschütterte den Glauben daran, dass alle Bestrebungen, auch jene der Gewerkschaften, zur Erhöhung des Arbeitslohnes ein Schlag ins Wasser seien, solange sie nicht den Lohnfonds selbst erhöhen oder die Arbeiterzahl verringern. Allerdings setzte nun diese, zuerst von Longe und dann von Thornton vertretene Kritik - insbesondere wurde das Vorhandensein eines starken Lohnfonds geleugnet, in den sich die Arbeiter zu teilen hätten -, mit solcher Wucht ein, dass sich sogar eine Autorität vom Range Stuart Mills vor ihr beugen musste, indem er Thornton gegenüber die Unhaltbarkeit der Lohnfondstheorie zugab. So wurde denn die Lohnfondstheorie, welche nun auch in Amerika durch Walker und von neuem in Deutschland durch Brentano einer scharfen Kritik unterzogen wurde, auch in England unpopulär, obzwar, wie wir wissen, der Grundgedanke derselben in England sowenig beseitigt wurde als in den wissenschaftlichen Bestrebungen anderer Länder.