. Grundproblem der volkswirtschaftlichen Theorie - 5 & 6

5 Die Neubelebung der Theorie

Keine dieser Richtungen konnte befriedigen. Die Fehler Naturlehre des Wirtschaftslebens waren zwar aufgedeckt, aber es trat nichts an die Stelle des stolzen Baues der klassischen Nationalökonomie, was für ihren Verfall den menschlichen Geist entschädigen hätte können. Sozialismus und ethische Schule waren durch praktische Forderungen beherrscht, während die historische Schule zwar durch wissenschaftliche Bestrebungen geleitet, doch jeder abstrakten Forschungsweise abhold, ihr Interesse mehr der Beschreibung und der Herausarbeitung von historischen Entwicklungsreihen, wie z. B. der Wirtschaftsstufen von Hildebrand widmete.

Wurde die Generalisierung, also das Bestreben, allgemeine Sätze über das Wirtschaftsleben zu gewinnen, durch die Klassiker zu weit getrieben, so war die historische Schule zu weit ins Spezialisieren geraten. Eine entschiedene Abneigung gegen Verallgemeinerung der Betrachtungen beherrscht sie. Waren die Klassiker nahe daran, Naturgesetze und Sozialgesetze als gleichbedeutend zu betrachten, so war die historische Schule am besten Weg, ja sie betrat ihn auch, überhaupt die Gesetzmäßigkeit im wirtschaftlichen Leben zu leugnen. Die einfache Beschreibung der Zusammenhänge sollte mehr oder weniger an die Stelle der Theorie treten. In der Volkswirtschaftslehre, welche mit den Physiokraten so stolz als Naturlehre des Wirtschaftslebens ihren Einzug in den Tempel der Wissenschaft hielt, nichts anderes zu sehen, als ein Aneinanderreihen von Beobachtungen und Tatsachen, ihre Aufgabe bestenfalls in einem Herausarbeiten von wagen Bewegungstendenzen zu suchen, konnte nicht befriedigen.

Sind denn Wirtschaft und Gesellschaftsleben jeder Erfassung von typischen Erscheinungen und Grundzusammenhängen wirklich unzugänglich? Trifft dies zu, so ist eine theoretische Volkswirtschaftslehre nicht aufzubauen. Den forschenden Geist konnte dieser Standpunkt jedenfalls nicht zur Ruhen bringen und eine theoretische Arbeit kam auch nach dem Verfalle der klassischen Schule nicht zum Stillstande. Es ist dies zunächst das Verdienst der bisher in Deutschland nicht nach Gebühr gewürdigten mathematischen Schule, welche Ende der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit Anton Augustin Cournot (1801-1877) und Etienne Juvenal Dupuit (1804-1866) einsetzte und dann in William Stanley Jevons (1835-1882) und Marie Ésprit Léon Walras (1854-1910) begeisterte Anhänger fand. Sie suchte dadurch neue Ausgangspunkte für die Theorie zu gewinnen, dass sie das Wirtschaftsleben als ein Kräftesystem auffasste und die Gesetze des wirtschaftlichen Gleichgewichts zur erforschen trachtete.

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In England ist sie heute die vorherrschende Richtung, nachdem sich ihr Marshall zum Teil, hauptsächlich aber Edgeworth, Wicksteed, Pigou und andere Autoren angeschlossen haben. In Amerika steht Irving Fisher und ein Teil der jüngeren Nationalökonomen auf ihrer Grundlage; Wicksell und Cassel vertreten sie in Schweden, Panteleoni und Barone in Italien, während Pareto sie als Nachfolger von Walras weiterzubauen trachtete. In Deutschland arbeitet auf dieser Grundlage Hermann Heinrich Gossen (1810-1858) sowie einer der selbständigen deutschen Gelehrten, Johann Heinrich von Thünen (1783-1850), später folgen Launhardt, Auspitz und Lieben dieser Fährte. Aber auch Forscher anderer Richtung, wie Hermann, später Dietzel und A. Wagner waren bemüht, die theoretische Arbeit fortzuführen. Teils auf die Klassiker gestützt, teils auf selbständigen Pfaden wandelnd, hielten sie das Banner der Theorie hoch, bis die Vorarbeiten des Umbaus so weit gediehen, dass die Theorie in die neue Bahn einlenken und zum neuen Leben erweckt werden konnte.

Die weiteren Forscherkreisen zugänglichen Grundlagen für eine Neubegründung der Theorie hat ein österreichischer Gelehrter Karl Menger (1840-1921) ausgearbeitet. Sie stützen sich hauptsächlich auf die Neugestaltung der Wertlehre und berührten sich in dieser Richtung mit den Ausgangspunkten von Gossen, Jevons und Walras. Auf dieser Grundlage wurden dann die Preis- und Verteilungslehre erneuert.

Was haben Menger und seine Schule, die österreichische Schule für die Entwicklung der theoretischen Nationalökonomie geleistet? Vor allem haben sie, wie auch die mathematische Schule, der Überzeugung, dass die Grundtatsachen der Wirtschaft theoretisch erfassbar sind, neues Leben eingehaucht. Dass dies gelungen ist, hat seinen Grund darin, dass sie die Grundphänomene des Wirtschaftslebens, Wert, Preis und Einkommensverteilung, auf eine neue, tiefergehende Wertlehre gestützt, in ihren Zusammenhängen erfassen konnten.

Was die Klassiker anstrebten, war hier wieder erreicht, aber auf einer anderen Grundlage, welche nicht mehr in einer aprioristischen Annahme über das Zusammenwirken von Produktionskosten und Konkurrenz, sondern in einer tieferen Zergliederung der Beweggründe der Wirtschaft, in einer Analyse der Bedürfnisse sowie ihres Befriedigungsvorganges wurzelt. Konnten die Klassiker die Brücke, welche vom Markte zu den handelnden Menschen führt, nur mangelhaft bauen, indem ihnen bloß die Bausteine des Tauschwertes, des Selbstinteresses und der Produktionskosten hierbei zur Verfügung standen, so ist es Menger gelungen, tief in die menschliche Seele hineinzudringen und durch die Ausarbeitung des Gebrauchswertes diese Brücke zu schlagen. Er konnte hierdurch die wirtschaftliche Tätigkeit von den Markterscheinungen bis zu ihrer letzten Quelle, bis in die Seele des Menschen verfolgen

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Freilich geriet Menger durch seine methodologischen Grundsätze in scharfen Gegensatz zu der gerade in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich stark entfaltenden historischen Schule. Seine Methode, welche dem Isolierungsverfahren und der Abstraktion wieder zum Siege verhelfen sucht, musste die schärfste Verurteilung durch Schmoller erfahren, der hierin einen Rückfall in die Naturlehre der Volkswirtschaftslehre sah. So entstand der auf beiden Seiten mit größter Heftigkeit geführte Methodenstreit. Er drehte sich um die Frage, ob das abstrakt-isolierende Verfahren berechtigt sei, oder das Wirtschaftsleben durch die Wissenschaft nur in seiner Vielseitigkeit erfasst werden könne. Aller Gegensatz, welcher durch die verschiedene Auffassungsweise der Aufgabe unserer Wissenschaft einerseits zwischen der klassischen Nationalökonomie, andererseits zwischen den Bestrebungen seit Sismondi und Adam Müller sich angehäuft hat, entlud sich in diesem Streite.

Der Neubau der Theorie auf Grund der unten zu besprechenden Grenznutzenlehre, welcher durch Sax (geb. 1845), Eugen Böhm von Bawerk (1851-1914), Freiherr Friedrich von Wieser (1851-1926), Robert Zuckerkandl (1856-1926), Eugen von Philippovich (1858-1917) und andere fortgeführt wurde, führte zu einer Erneuerung unserer Wissenschaft und brachte eine einheitliche, geschlossene Erklärung der Erscheinungen der Volkswirtschaft, wie sie seit der klassischen Nationalökonomie nicht erreicht wurde. Wacker mitgeholfen hat hierbei besonders die amerikanische Wissenschaft. Durch Francis Amasa Walker (1840-1897) zu ernster theoretischer Arbeit erzogen, griff sie mit gesundem theoretischen Gefühl die neuen Grundlagen auf um tätig und erfolgreich an ihrer weiteren Entfaltung mitzuarbeiten; Clark, Seligmann, Patten, Taussig, Fetter, Irving Fisher, Carver, Davenport u. a. widmeten sich dieser Aufgabe. Auch in Skandinavien fand die neue Theorie in Wicksell einen hervorragenden Vertreter; es folgten in Holland Pierson und Verrijn Stuart, in Italien Pantaleoni, Graziani, Ricca Salerno und viele andere. Auch in Frankreich verschloss sich der neuen Richtung nicht; hatte doch hier schon Walras vorgearbeitet. Den stärksten Widerstand leistete Deutschland gegenüber der neuen Lehre, während England dieselbe von Smart eingeführt, bald die hervorragenden Geister, und unter ihnen den Großmeister der neuen englischen Nationalökonomie, A. Marshall - zwar mit gewissen Vorbehalten - für sich gewann.

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Wer sich über die Grundlagen der österreichischen Schule orientieren will, nehme zunächst Mengers Grundsätze der Volkwirtschaftslehre, Wien, 1871, zur Hand (Womöglich die erste Ausgabe, welche jedoch heute schwer zu beschaffen ist. Die zweite Auflage ist im Jahre 1923 erschienen, jedoch nur auf Grund von Aufzeichnungen Mengers zusammengestellt worden und entbehrt deshalb jener Kürze und Schärfe der Gedankenführung, welche die erste Auflage so belehrend und anziehend macht.) Sodann wende man sich dem Studium von Böhm-Bawerks Kapital und Kapitalzins 2. Abt., 1. Band, 4. Aufl., Tübingen 1924 zu. Vergleiche auch Wicksell: Vorlesungen über Nationalökonomie, 1. Band, Jena, Verrijn Stuart: Die Grundlagen der Vorlkswirtschaft, Jena 1923. - Von den amerikanischen Werken seien Clarks Essentials of Economics, New York, 3. Aufl., 1908 erwähnt. Einen Überblick in deutscher Sprache bietet Schumpeters Aufsatz: „Die neue Wirtschaftstheorie in den Vereinigten Staaten“ (Schmollers Jahrbuch, XXXIV. Jahrgang, 1910).

Bezüglich der mathematischen Schule sei vor allem auf die deutsche Übersetzung des Werkes von Jevons hingewiesen (Jevons: Die Theorie der politischen Ökonomie, Sammlung sozialwissenschaftlicher Meister. Band 23, Jena 1924). Auch Cournots Werk ist in dieser Sammlung als Band 24 in deutscher Sprache erschienen. Eine kürzere Einführung enthält Launhardt: Mathematische Begründung der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1885. - Französisches Hauptwerk ist Walras: Éléments d’économie politique pure. Lausanne 1874 (4. Aufl. 1900). Sehr anregend ist ferner Paretos Manuel d’économie politique. Paris 1909. - Eine gute Zusammenfassung bietet J. Moret: L’emploi des mathématiques en économie politique, Paris 1915.

Die Hauptwerke des Methodenstreits sind: Menger: Untersuchungen über die Methode der Sozialwissenschaften und der politischen Ökonomie insbesondere. Leipzig 1883. - Schmoller: Beiträge zur Methodik der Wirtschaftswissenschaften. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. 2. Fassung Band IX. 1884. - Hasbach: Ein Beitrag zur Methodologie der Nationalökonomie. Schmoller Jahrbuch 1885. - Ferner wird die Frage eingehend erörtert in Amonns Objekt und Grundbegriffe der theoretischen Nationalökonomie. 2. Aufl. Leipzig und Wien 1927.

6 Neuere Bestrebungen

Doch jene Bestrebungen verstummen nicht, welche die abstrakt-isolierende Theorie verwerfen. Die Theorielosigkeit der historischen Schule abstreitend sind sie in der neue organischen Schule Othmar Spanns zum neuen Leben erwacht. Sie wenden sich gegen die individualistische Auffassung der klassischen, sowie österreichischen Schule. Sie verwerfen die Auffassung des Wirtschaftslebens als reine Verkehrswirtschaft, lehnen die Beschränkung der wirtschaftlichen Vorgänge auf die Erscheinungen des Marktes ab und fordern die Erfassung der volkswirtschaftlichen Vorgänge als Ganzheitsvorgänge der Gesellschaft. Wenn auch hierin die Forderung nach Umgestaltung der Theorie liegt, so bedeutet diese Richtung ebensowenig die Ablehnung der Theorie im allgemeinen, wie die Richtung Karl Diehls, welche die Abhängigkeit der Volkswirtschaft von ihren rechtlichen Grundlagen betont, und deshalb die Mengersche Richtung als zu weitgehende Abstraktion ablehnt. Das Bestreben eine Theorie der Volkswirtschaftslehre aufzubauen ist heute auch auf dem Heimatsboden der historischen Schule viel reger, als je seit dem Aufkommen dieser Schule. Nur ist das Bestreben unserer Zeit darauf gerichtet, die Theorie lebenswahrer zu gestalten und sie mehr an die Erfahrung anzulehnen.

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Besonders rege sind diese Bestrebungen in Amerika, wo sie durch breit angelegte statistische Arbeiten gestützt die Anlehnung an die Tatsachenforschung, an das statistische und beschreibende Material suchen, bei der Aufarbeitung dieses Materials hingegen sich weitgehend der mathematischen Methode bedienen. Institutionelle Schule nennt sich diese neue Richtung in Amerika und eine ganze Generation junger Forscher (so Mitchel, Tugwell, Young u. a.) ist bestrebt, eine dem realen Leben näher stehende Theorie aufzubauen.

Sonst bietet das Feld der volkswirtschaftlichen Theorie heute ein buntes Bild. Scheinbar von Walras stark beeinflusst, werden die Grundgedanken der mathematischen Richtung durch Schumpeter und Amonn aufgegriffen, und auch Cassel, obzwar er die subjektive Werttheorie entscheiden ablehnt, hat viele Berührungspunkte mit der Auffassung von Walras. Hauptsächlich gilt dies von der Preislehre, welche Cassel durch seine Arbeiten gefördert hat. Die Grenznutzenlehre hat in Hans Wagner, Karl Landauer u. a. weitere Anhänger gefunden, während Liefmann auf Grund des Ertragsgedankens eine psychologische Fundierung unserer Wissenschaft sucht. Auch der wissenschaftliche Sozialismus hat in Rosa Luxemburg eine Weiterbildung erfahren, während Oppenheimer seine eigenen Pfade wandelt.

Es wird unserer Theorie oft zum Vorwurf gemacht, sie sei unfertig, weil noch in den Ausgangspunkten die größten Gegensätze herrschen. Wer die Theorie wirklich ernstlich studiert, wird diesem oberflächlichen Urteil nicht so ganz ohne Vorbehalt beipflichten können. Ein näheres Eingehen auf die einzelnen Probleme der theoretischen Volkswirtschaftslehre wird uns zeigen, dass es wohl an strittigen Fragen nicht mangelt, dass aber die neueren Lösungsversuche trotz ihrer verschiedenen Abweichungen in so mancher Beziehung in ähnlichen Bahnen wandeln, und dass auch der Gegensatz zwischen alter und neuer Theorie bei weitem nicht so unüberbrückbar ist, wie oft angenommen wurde.

Über die neuesten Richtungen vergleicht man: Spann: Die Haupttheorien der Volksiwrtschaftslehr. 16. Aufl. Leipzig 1926. - Surányi Unger: Die Entwicklung der theoretischen Volkswirtschaftslehre im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Jena 1927. - H. Honegger: Volkswirtschaftliche Systeme der Gegenwart. Karlsruhe 1925. - Tugwell: The trend of economics. New York 1924.

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Wieder ein Link zu den Aufgaben üben.